Die Nummer-Maschine: Jobcenter

Die Ruhe vor dem Sturm

(…) Ich schalte den Monitor ein, tippe mein Passwort und warte auf das Hochfahren des Computers. Dieser ist nicht der Schnellste, so dass ich in Ruhe meine Tasche auspacke und meinen Kalender sichte. Acht Termine. Chronologisch ab acht Uhr im Halbstundentakt. Der Blick auf die Namen lüftet das Geheimnis meiner Gedächtnislücke. Zwei Namen sind mir als Unbekannt im Erinnerungsvermögen. Hinter den Namen jeweils die Kennzeichnung: FE II + III. Folgeeinladungen die Zweite und die Dritte.

Kunden, welche mir gänzlich unbekannt sind und ich wohl auch heute nicht kennenlernen darf. Für mich bedeutet dieses, dass ich mir nun die Mühe machen darf, eine weitere Folgeeinladung zu versenden mit einer gleichzeitigen Sanktionsanhörung. Formblätter aus dem System Verbis[1], in denen ich bereits eine mindestens 10-prozentige Sanktion für das Meldeversäumnis androhe. Bei zwei Folgeeinladungen bin ich somit schon bei dreißig Prozent und bei drei Einladungen bei 40 Prozent. Die Agentur für Arbeit ist jedoch gnädig und lässt die Kunden sich zuvor wegen der nicht wahrgenommenen Termine schriftlich äußern. Eine Gnadenfrist von drei Wochen plus drei Tagen Postversand.  Die Sanktionsanhörungen werde ich wohl nicht zu Gesicht bekommen. Ebenso wenig wie die Kunden.

Der Krux mit der „mangelnden Mitwirkung“

Habe ich eigentlich schon im Lebenslauf den Vermerk „Mangelnde Mitwirkung“ hinterlegt? Ein Akt, den ich nach der zweiten Folgeeinladung ausführen darf und sollte. Für die monatliche Statistik der Bundesagentur für Arbeit hat dieses wohl keine Relevanz. Für mich als Arbeitsvermittlung auch nicht. Weiterhin muss ich den Versuch starten, den Kunden im Abstand von vier Wochen einzuladen. Für den Leistungsempfänger kann es jedoch entscheidend sein. Möchte nämlich genau dieser, aufgrund der Sanktion, Lebensmittelgutscheine als Darlehen abholen, muss genau dieser Vermerk reaktiviert werden. Ohne persönliche Vorsprache bei mir, gibt es nichts. Aber auch gar nichts. Hat der Arbeitslose überraschenderweise die glänzende Idee eine Weiterbildungsmaßnahme zu durchlaufen, behindert genau dieser Eintrag seine Motivation.

„Sie möchten eine Weiterbildungsmaßnahme? Tut mir leid. Nach unserem Förder-Check besteht keine hohe Erfolgswahrscheinlichkeit.“ Mehr benötige ich nicht.

Förder-Chec

Förder-Check

Ein Blick in das Formblatt oder Verbis „Fördercheck“ der Leitlinien für einen wirkungsvollen Instrumenteneinsatz im Sozialgesetzbuch II[2] gibt mir die Antwort. Heißt es dort so schön: Besteht hohe Erfolgswahrscheinlichkeit? Es besteht kein vorrangiger Handlungsbedarf (z.B. fehlende Motivation), der den Erfolg des Förderinstruments vereitelt. Und nun entscheide ich zwischen den Optionen „ja“ oder „nein“. Ich schaue zurück, zähle die Anzahl der nicht wahrgenommenen Termine und stelle fest: Fehlende Motivation. Wie soll der Kunde eine Bildungsmaßnahme erfolgreich durchstehen, wenn er nicht mal die Termine im Jobcenter wahrnimmt? Und folgere daraus: Kunde wird die Maßnahme nicht regelmäßig, wenn überhaupt besuchen. Ein Klick auf das „Nein“ erfolgt und im gleichen Atemzug leuchtet mir unser System Verbis das fröhliche Nein für einen Bildungsgutschein entgegen. Verbis ist jedoch gnädig. Oder besser gesagt, die Leitlinien für einen wirkungsvollen Instrumenteneinsatz im SGB II sind gnädig. Es bietet mir und dem Kunden ein Alternatives Produkt nach Produktkatalog an. Kurz gesagt: „Einen Bildungsgutschein[3] darf ich ihnen nicht aushändigen. „

Bildungsgutschein vs. Trainingsmaßnahme

„Aber wie wäre es mit einer Trainingsmaßnahme[4]?“ „Da hätten wir im Angebot den Computerführerschein, ein Bewerbungstraining, eine Maßnahme um ihre persönliche Gesundheit zu stabilisieren mit Raucherentwöhnung.“ „Sie rauchen doch, oder?“

Mein Blick geht auf die rechte Seite des Blattes zum „Förder-Check Marktersatz“. Eine Seite grundsätzlich für Kunden mit komplexem Handlungsbedarf. Und da gibt es keine unangenehme Frage nach der hohen Erfolgswahrscheinlichkeit. Stattdessen wird die Wirkung abgefragt. Ist durch die Maßnahme die Teilhabe an der Arbeitsgesellschaft wahrscheinlicher (Wirkung)? Ist eine Tagesstruktur möglich? Wird die Beschäftigungsfähigkeit hergestellt? Sind Integrationsfortschritte erzielbar? Und wird die mittel- bis langfristige Hilfebedürftigkeit[5] reduziert?

Mein Gegenüber versteht nichts mehr. Und mir rennt die Zeit davon. Von den angesetzten vorgegebenen dreißig Minuten Beratungszeit sind schon zwanzig rum. Bleiben mir noch zehn Minuten. Zehn Minuten um eine Trainingsmaßnahme zu buchen. Zehn Minuten um den Beratungsvermerk in Verbis zu schreiben. Da bleibt keine Zeit für lange Erklärungen an den Kunden. Dalli, Dalli sprach schon Hans Rosenthal und sprang dabei freudig in die Luft. Springen werde ich nicht. Mein Kunde vermutlich auch nicht. Wie sieht das auch aus? Ich mache es meinen mir Anvertrauten einfach. Minimiere Verbis und öffne mit dem Windows-Doppelklick das Programm Buchungstool. Wunderbar präsentieren sich hier im Überblick alle Trainingsmaßnahmen unserer Stadt. Zeigt mir die rechte Spalte als Kurzform die Art der Maßnahme, erblicke ich auf der linken Bildschirmseite die Anzahl der gebuchten Teilnehmer, den Beginn, den Träger sowie die Eingabemaske für die Daten des Teilnehmers.

Rot, Gelb, Grün!

Farbige Balken zeigen mir die jeweilige Auslastung an. Erinnert mich an eine Ampel. Rot für ausgebucht: Stopp! Gelb für Maßnahmen mit genügender Anzahl an Teilnehmer; jedoch Buchung noch möglich. Gezielte Überbuchung. Man weiß ja, dass höchstens die Hälfte der angemeldeten Arbeitslosen beim Träger persönlich erscheinen. Grün: Buche! Mein Fokus liegt auf Gelb und Grün. Schade, Raucherentwöhnung ist ausgebucht. War mir noch gar nicht bewusst, dass so viele Kunden sich das Rauchen abgewöhnen wollen. Aber hier: Diverse Bewerbungstrainings. Eine Maßnahme sticht mir ins Auge. Bewerbungstraining mit Kompetenzfeststellung. Den hinterlegten Flyer des Bildungsträgers schaue ich mir mal genauer an. Stärken-Schwächen-Analyse, Gesundheitscheck, Profiling[6] und das Schreiben von Bewerbungen anhand der persönlichen Kompetenzen. Klingt gut. Ausdruck des Flyers erfolgt. Nun noch schmackhaft verkaufen. „Schauen Sie mal hier. Bewerbungstraining mit ausführlicher Kompetenzfeststellung. Eine Chance für Sie ihre Stärken und Schwächen analysieren zu lassen und somit passgenaue Bewerbungen zu schreiben. Gleichzeitig findet ein Gesundheitscheck statt. Ein Arzt und ein Psychologe untersuchen sie und erstellen somit ein Positiv-Negatives Leistungsbild. Damit können wir vielleicht den Ärztlichen Dienst der Agentur für Arbeit umgehen. Und sie wissen direkt, wie leistungsfähig sie noch sind. Ach ja, und kostenlose Bewerbungsfotos. Das klingt doch gut!“.

„Ähm, ja – aber ich habe doch schon Bewerbungstraining gemacht“, ein zarter Versuch des Kunden diese Maßnahme zu boykottieren. Ein erneuter Blick in den Lebenslauf bestätigt seine Aussage. Das damalige Training, vor zwei Jahren, hat wohl nicht viel gebracht. Sonst säße er ja nicht hier. Irrelevant. „Wissen Sie, das letzte Training war vor zwei Jahren. Inzwischen hat sich doch einiges geändert. Vor allem ihr Gesundheitszustand. Und es ist immer gut zu wissen, wo ich, also sie, aktuell stehen.“ Von den zehn Minuten sind inzwischen fünf Minuten vergangen. Keine Zeit für Diskussionen. Kunde wird gebucht. Buchungstool geschlossen und zurück zu Verbis. Schnell die Dokumentenvorlage öffnen und einen Trainingsscheck für die Maßnahme bei Träger (MAT) öffnen. Erklärungsbogen, Genehmigung MAT und Stellungnahme für mich als Arbeitsvermittlung wird ausgedruckt. Zügige Erklärung zum Fahrgeld, Hinweis zum Beginn der Teilnahme und Aushändigung des Flyers. Mein Gegenüber ist ruhig. Wahrscheinlich hat es ihm die Sprache vor Freude verschlagen. Er möchte gehen. Darf er.

Das Muss: Die Eingliederungsvereinbarung

An der Tür fällt mir ein, dass ich die Eingliederungsvereinbarung[7] vergessen habe. Der Kunde setzt sich erneut hin und ich klicke auf Eingliederungsvereinbarung im System. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass mein Gegenüber genervt wirkt. Egal. Die Eingliederungsvereinbarung muss her. Ich aktiviere per hinterlegte Textbausteinen die Pflicht zur Teilnahme an der Trainingsmaßnahme bei Träger „Fit“ mit dem kreativen Namen „Mit „Fit“ in die Arbeitswelt“ und dem Beginn in zwei Wochen sowie dem Ende in sechs Wochen. Einen identischen Text aktiviere ich auf der Jobcenterseite. Hier verpflichtet sich das Jobcenter zur Übernahme der Kosten für die Maßnahme. Ein Klick noch auf die Rechtsfolgebelehrung und fertig ist die neue beidseitige Vereinbarung. Gültigkeit bis Ende der Maßnahme. Ein Nachfragen oder gar eine Erklärung zu diesem Vertrag erfolgt nicht. Keine Zeit. Inzwischen sind vierzig Minuten verbraucht. Ein Minus von zehn Minuten.

Nachdenken: Fehlanzeige – Keine Zeit

Ein Nachdenken meiner Person, über die Abgabe der Grundrechte nach dem Grundgesetz[8] des Kunden in diesem Moment? Fehlanzeige. Keine Zeit. Ein Nachdenken über das Wollen dieser Eingliederungsvereinbarung durch den Kunden? Keine Zeit. Außerdem, ist es unsere Pflicht mit jedem Kunden eine Eingliederungsvereinbarung abzuschließen. Sind doch Zahlen zu erfüllen, welche die Schallmauer von knapp hundert Prozent durchbrechen mögen. Nur dumm, dass der Kunde sich just in diesem Moment in die gefährliche Spirale der Sanktionen[9] begibt. Geht er nämlich nicht hin, habe ich das absolute Recht, ja sogar das verbindliche Recht, eine sofortige 30-prozentige Sanktion durchzuführen. Sofern es seine erste Pflichtverletzung ist. Ist es jedoch eine Wiederholte, so kürze ich doch mal um schlappe 60 Prozent und mein Kunde erhält statt 374 Euro zum Leben nur noch 149,60 Euro. Selbst Schuld. Steht ja alles in der Vereinbarung und schließlich hat er unterschrieben. (…)

Der Name des Verfassers ist bekannt


[1] Verbis: internes Computerprogramm der Bundesagentur für Arbeit für die Erfassung der Kundendaten, Termine, Gesprächsverlauf, Lebenslauf

[2] SGB II: Sozialgesetzbuch II. Hinterlegung der Gesetzesregelung für Leistungsempfänger von Arbeitslosengeld II

[3] Bildungsgutschein: BGS oder auch FbW genannt (Förderung beruflicher Weiterbildung)

[4] Trainingsmaßnahme: TM. Einkaufte Kurse von Bildungsträgern über das Regionale Einkaufszentrum

[5] Hilfebedürftigkeit nach §9 SGB II: (1) Hilfebedürftig ist, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält.

[6] Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Berufliches_Profiling: Berufliches Profiling ist die Analyse der Anforderungen einer zu besetzenden Stelle (Stellenprofil) in Verbindung mit der Analyse der relevanten Merkmale der Kandidaten (Kandidatenprofil). Durch den Abgleich zwischen Ergebnis der Anforderungsanalyse und Ergebnis der Kandidatenanalyse (Jobmatch) ergeben sich wichtige Hinweise für die Auswahl des Bewerbers. Es handelt sich im weitesten Sinne um die Anwendung des Benchmarking in der Personalwirtschaft. Anwendung findet die Technik auch bei der Arbeitsvermittlung.

[7] §15 SGB II – Eingliederungsvereinbarung – siehe Anhang

[8] Vgl. Art. 1. [Schutz der Menschenwürde] sowie Art. 12. [Freiheit der Berufswahl] – siehe Anhang

[9] §31 SGB II – Pflichtverletzungen Unterabschnitt 5 Sanktionen

(1) 1Erwerbsfähige Leistungsberechtigte verletzen ihre Pflichten, wenn sie trotz schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen oder deren Kenntnis (…) – siehe Anhang



Kategorien:Jobcenter

Schlagwörter:, , , , , ,

  1. Wenn der „Kunde“ keine Eingliederungsvereinbarung unterschreibt, und auch keinerlei Verträge die beim Müllmassnahmeträger vorgelegt werden, ist die Wahrscheinlichkeit groß, das die Maßnahme ihm erspart bleibt.

    Und dem Steuerzahler sinnlose Aufwendungen für diese Maßnahme.

  2. Zitat
    „Außerdem, ist es unsere Pflicht mit jedem Kunden eine Eingliederungsvereinbarung abzuschließen.“
    Zitat Ende
    Es gibt keine Pflicht für Sachbearbeiter eine EGV zu schließen, es handelt sich um eine „Soll“-Regelung, der Blick ins Gesetz schafft Klarheit…
    http://www.sozialgesetzbuch-sgb.de/sgbii/15.html

    • „Soll-Regelung“ ja aber sicher XD. Ich war letztens mit einem Bekanntem im Jobcenter. 15 Min vorm Termin waren wir da – obwohl der Herr Sachbearbeiter die ganze Zeit herumlief, mit Kollegen sprach sich 2x nen Kaffee holte , kamen wir erst über ne halbe Stunde nach dem eigentlichen Termin dran. Der Termin dauerte dann 10-15 Min:

      Sachbearbeiter(SB): Haben sie etwas gefunden
      H4ler: Nein leider bisher nichts <<> Telefon klingelt, SB telefoniert 5-8 Min mit Kollegen über etwas anderes
      SB: druckt Eingliederungsvereinbarung aus > Da unterschreiben!
      H4ler: Um was gehts denn bei der Maßnahme?
      SB: Das ist halt ein Vermittlungscoaching damit wir sehen wo wir sie unterbringen können
      H4ler: Und wie läuft das ab?
      SB: schon leicht genervt > Da kriegen sie eine Einladung da steht dann alles drin.

      Unterschrift und Tschüss, dafür ewig warten. Keine Belehrung das man nicht bzw. nicht gleich unterschreiben muss. Nichts genaues um was es in der Maßnahme geht bzw. wielang die läuft…

      Das weitere erspar ich mir mal. Aber wie gesagt, von wegen Zeit nehmen für den „Kunden“, sich mit den Regelungen auskennen, richtig beraten, … looooooooooooooooolllll

      Die Realität ist Verwalten und Kosten einsparen und Druck ausüben! Und das alles selbst wenn man dafür den „Kunden“ bescheisst ( Vorfall selbst mitbekommen: H4lerin musste vom Arzt eine Bescheinigung bringen, Arzt verlangte 10 Euro dafür > Wucher aber das ist ein andres Thema > müsste also eigentlich das Amt tragen da die Bescheinigung für sie ist – H4lerin geht hin > ne zahlen wir nicht – Maßnahmencoach sagt die müssen zahlen > Anruf beim Amt: nö zahlen wir nicht > Chef des Maßnahmeninstituts wird eingeschaltet > auf einmal wird gezahlt… )

      Solang man nicht einen Anwalt in der Hinterhand hat….

%d Bloggern gefällt das: